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Carsten Goering chroma aberrare

Berlin 17.01.–16.05.2020

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Flüssige Bilder entwickelt der Dichter Carlfriedrich Claus in seinen Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr, reflektierende Signen, Spiegelzeichen dessen, was als Ich durch das Auge blickt. Das sind Kategorien, die auch für das Verständnis von Bildern gültig sind. Wir sehen nur wenig wirklich, an das meiste erinnert sich unser Gehirn, und es bleibt die Frage, zu welchen Tatsachen sich Linie und Farbe musterhaft zusammensetzen. Das Gesehene muss stets zurück, durch das Auge bis ins blinde Zentrum, um dort zu zerfallen in Spektren, die die Nerven zu verwandeln beginnen und erst dann entsteht vor unserem inneren Auge ein Bild. Statt der Wirklichkeit sehen wir die Möglichkeit, wie etwas sein, in Erscheinung treten kann, sich herstellt innerhalb eines Prozesses, der sich nur unzureichend mit Wahrnehmung wiedergeben lässt.

In diesen Raum führt uns Carsten Goering. Der Blick trifft auf Farben, Muster, Flächen, die sich ihrer Abstraktheit voll bewusst sind, sie sogar ausstellen. Was als Einheit ein Bild ergibt, entwickelt sich erst infolge seiner Struktur. Wir blicken durch das Auge, aber in welche Richtung. Nicht allein auf die Welt, sondern dorthin, wo sich ihr Abbild projiziert. Die Bilder haben auch den, der sieht, im Blick und zeigen ihm einen Zusammenhang, der keine Haltung verlangt. Diese Bilder handeln nicht von Körpern, sind nicht gesichtersüchtig, sie öffnen den Raum für den Moment seiner Verwandlung. Ob man nun meint, durch eine Oberfläche hindurch zu sehen bis auf den Grund, sie sich einem entgegenwölbt oder man an ihr abblitzt, der Blick zurückgelenkt wird und sich daraufhin Begreifen einstellt, in wie viele Facetten die Welt ständig zerfällt und welches Verhältnis von Natur und Kultur sich damit offenbart.

Blickt man lange genug hin, stößt man auf eine weitere, bislang unbeachtet gebliebene Ebene der Rillen, Ritzen, Einkerbungen. Spuren in den Mustern, die deren Zusammenhang unterwandern. Spuren treten immer im Nachhinein in Erscheinung, sie verweisen auf das, was vergangen ist. Das fertige Bild bleibt Palimpsest, denn die Rillen sind gleichfalls Zeichen des Produktionsprozesses, der Technik der Bildherstellung und koppeln die Wirkung an die Herstellung zurück. Wie eine Signatur, ein Wasserzeichen des Künstlers.

Diese Bilder halten die Wahrnehmung am Laufen und verändern sie. Je nach Blickrichtung nutzen sie den natürlichen Rhythmus von Tag und Nacht und die damit einhergehenden veränderlichen Eigenschaften des Lichts für die Wirkung. Sie verbergen nichts, verrätseln auch nichts, benötigen keine Chiffren. Es sind die Muster und Farben unserer Welt. Was blickt als Ich durch das Auge? Wo fängt Sehen an? Dort, wo der Blick auf das Bild trifft? Nein, denn das wäre noch kein Erkennen. Dort, wo sich das Bild formt? Nein, denn dann wäre der Erkenntnis der Vorgang des Erkennens verloren gegangen. Das Bild bleibt gegenstandslos, entzieht sich dem Zugriff, der es festlegen will, geht im besten Sinne perspektivlos mit der Zeit. Und konfrontiert uns mit der Frage nach dem, was Tatsachen sind. Abgründe oder Paradiesgärten, Außen- wie Innenwelten, ohne Bewertung. Dafür in einer Ordnung und Schönheit, die auch das Universum hat.

Sieht man sich die Bilder von Carsten Goering an, sieht man sie nicht nur an, man sieht ihnen zu. Sie verharren nicht in einer Gestalt, sondern setzen zu einer Bewegung an, die den Prozess der Wahrnehmung gleichermaßen enthält wie ausstellt. Zu sehen ist nichts als Sehen.


Text: Kerstin Preiwuß