Untitled #132, 2022

Anna Virnich LANGES FÄDCHEN FAULES MÄDCHEN

Leipzig 14.01.–08.04.2023

Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
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Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
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Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
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Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Anna Virnich . "Langes Fädchen Faules Mädchen" . 2023 . REITER | Leipzig . Foto: dotgain.info
Natürlich lässt sich Anna Virnichs Kunst zunächst einmal als abstrakte Malerei lesen. Wie es nach diesem ersten Eindruck aber weitergeht, ist schon nicht mehr so klar. Warum eigentlich Malerei? Und welche? Also, zunächst einmal: Malerei, weil Rahmen, Leinwand, Farbe, weil Geste, Markierung, Form – jenes, aufs Wesentliche beschränkte und rigide Set einfacher Elemente eben, das gerade aufgrund dieser Einfachheit und Beschränktheit die Basis unendlicher Modulation darstellt, mit der jedes Mal aufs Neue Ausdruck und Gefühl, Subjektivität und Individualität (und deren Verstrickung in die Welt) buchstabiert werden kann.

Natürlich wäre Virnichs Malerei dann weiterhin eine, die mit einem gewissen reflexiven „Twist“ daherkommt. Twist, weil: vernähte und über hindurchdurchschimmernde und damit als Träger offengelegte Rahmen gespannte, mal bemalte, dann wieder belassene Stoffe statt Leinwand; Textilfragmente statt Fläche; Nähte und Stiche statt Striche; und schließlich unterschiedliche Stoffoberflächen und textile Webstrukturen anstelle eines groben oder feinen, eines dick-pastosen oder verschwindend-dünnen Farbauftrags.
Durch die Verwendung verschiedener Stoffe und ganz allgemein die Betonung des Textilen verleiht Virnich ihrer Malerei etwas betörend Schönes. Sie lädt sie sinnlich und haptisch auf. In einem raffinierten, fast verschwindenden Kunstgriff wird die Malerei dabei aber auch zu einem fast frankensteinschen Körper zweiter Ordnung vernäht, in dem die materiellen Träger (Rahmen, Leinwand, Farbe) mit den Trägern des subjektiven Ausdrucks (Form, Markierung, Geste) verschmelzen. „Malerei (in Anführungszeichen)“ also. Ob dabei etwas als Malerei verkleidet oder die Malerei selbst verkleidet wird, bleibt dezent in der Schwebe.
Auch in Virnichs Ausstellung „Langes Fädchen faules Mädchen“ finden sich diese für sie typischen Malereien, insgesamt fünf an der Zahl (alle 2022): abstrakte Landschaften, geschaffen aus Stoffen mit ganz unterschiedlicher Haptik – verschwindend dünne und Mullbinden-hafte Gaze, Polyesterstoffe mit glänzend und schimmernden Oberflächen, bemalte Seidenschals, dehnbarer Latex, strukturstärkere Materialien wie paillettenbesetzte Stücke oder Tüll. Manche sind bemalt oder teilweise gefärbt, andere ohne weitere Bearbeitung zusammengenäht und über die Rahmen gespannt, sodass sich Falten, Verzerrungen oder Überlappungen ergeben. Das Material selbst macht die Zeichen.

Für eine neue Serie von kleinformatigen Arbeiten namens „Nervenkostüme“ (alle 2022) verzichtet Virnich in dieser Ausstellung aber auch zum ersten Mal komplett auf die Rahmen. Die entsprechenden Arbeiten werden sanft gespannt direkt auf die Wände gehängt, die so ihrerseits zum „Malgrund“ mutieren. Die Engführung von Trägermaterial und darauf aufgebrachter Geste, wie sie die auf Rahmen gespannten Stoffarbeiten Virnichs auszeichnen, wird wieder aufgelöst – oder, um im Vokabular des Nähens zu bleiben: „aufgetrennt“. Mit dem Resultat, dass die Geste (nun wieder im sprachlichen Register der Malerei formuliert) in den Raum hinein „auslaufen“ kann: Das Malerische als bestimmter Blick stülpt sich über die Wahrnehmung des gesamten Raums. Und Virnichs Malereien verbinden sich mit den rohen und unregelmäßig gefleckten Böden und Decken der Galerieräume in der ehemaligen Leipziger Baumwollspinnerei.
Die Durchlässigkeit und Offenheit, die der gesamten Ausstellung eigen ist, versteckt sich zudem schon im Titel der neuen Serie, der das Sensorium des Fühlens und Wahrnehmens einmal mehr in Vokabeln des Textilen kleidet: Ein „Nervenkostüm“ ist eine umgangssprachliche Bezeichnung für das „Nervensystem im Hinblick auf seine Belastbarkeit“, sagt der Duden – wobei hinzugefügt werden sollte, dass im alltäglichen Gebrauch dann eben doch meist von einem eher schwachen und insofern auch besonders durchlässigen Nervenkostüm die Rede ist.

Auch die letzte Arbeit, die hier im Raum und nur für die Dauer der Ausstellung entstanden ist, bedient sich des Prinzips des Malerischen und lässt es im selben Atemzug hinter sich. Aus Wachs, das ursprünglich von einer Bodenarbeit aus ihrer Ausstellung „Hyperdrüse“ 2019 in der Berliner Schering Stiftung stammt, hat Virnich im zentralen Raum der Galerie eine abstrakte Bodenarbeit realisiert. Gelblich und rosafarben, zudem nach einem eigens entworfenen Duft riechend, fliest das überaus wandelbare Material ineinander und bildet nur beschränkt kontrollierbare Formen und Muster aus. Dazwischen liegen seltsame Artefakte, gestischen Markierungen gleich. Virnich hatte sie 2021 ebenfalls aus dem Wachs der „Hyperdrüse“-Ausstellung gegossen und als meist lange, kerzenähnliche Stelen in der Uckermark für die Dauer eines Jahres dem Zyklus der Jahreszeiten ausgesetzt. So sind sie nun teilweise eingeschmolzen, gebrochen, verfärbt und mit Steinchen, Moosen und allerlei anderen Überresten angereichert – surreale Fundstücke aus einer anderen Welt. Zusammengenommen ergibt sich ein Bodengemälde mit abstrakten Farbflächen, Markierungen und Gesten, alles ausgebreitet auf einer großen Plane, die als gigantische horizontale Leinwand fungiert: ein Bild von Malerei, in Maßen, Material, Präsentation und Geruch aber längst etwas ganz anderes. Etwas, das buchstäblich über die Grenzen getreten, aus dem Rahmen geraten ist.
Spätestens mit dieser letzten Arbeit zeigt sich das Malerische in dieser Ausstellung weniger (zumindest aber nicht nur) als mediale Frage, sondern als bestimmtes Sensorium, als spezifische Form der Wahrnehmung und eines daraus resultierenden Tuns – ein gleichermaßen abstraktes wie ganz konkret-handfestes und nicht selten surreales Ausmalen einer Traumlandschaft mit den Mitteln der Welt; es zeigt sich weniger als rigides Auskennerspiel mit den begrenzten Elementen eines medialen Setups und vielmehr als ein imaginatives, tastend-erfinderisches Vorgehen der Welterschließung und des Weltenentwerfens auf Grundlage von Vorhandenem, genauer, als schrittweise, am und im Material ausgeführte Bewegung. Das eine schließt das andere nicht aus, aber einen Unterschied in der Vorgehensweise wie auch deren Interpretation macht es dann doch. Die Welt, das ist all das, was gemalt werden kann; all das, was man sich ausmalen kann, womit auch immer.

© Dominikus Müller, 2023


Anna Virnich (geboren 1984 in Berlin) studierte von 2007 bis 2012 an der Kunsthochschule Braunschweig und war Meisterschülerin bei Prof. Walther Dahn von 2012 bis 2013. Sie wurde 2010 mit dem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ausgezeichnet. Ihre Arbeiten sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten und wurden in nationalen wie internationalen Ausstellungen gezeigt, u.a. im K21, Düsseldorf (2022), in der Schering Stiftung, Berlin (2019), in der der Sammlung Philara, Düsseldorf (2018), sowie bei DREI, Köln und PROYECTOSMONCLOVA in Mexico-Stadt. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Berlin.
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